- Magazin Klassik
- Radio Klassik Stephansdom
- # 35 | Winter 2024
- S. 14-15
Der Fall „Johann Strauss“
Text: Monika Jaroš
In: Magazin Klassik, # 35 | Winter 2024, Radio Klassik Stephansdom, S. 14-15 [Hörermagazin]
„Am 27. September 1940 erschien am Vormittag ein unbekannter Herr in der Pfarrkanzlei und begehrte Einsichtnahme in die Pfarrmatriken. Er legitimierte sich als Beamter des Gausippenamtes Wien …“
Damit begann eine Fälschungsaktion mit operettenhaft-grotesken Zügen, die erst nach Kriegsende ihren Abschluss finden sollte.
Das Trauungsbuch 1761–1762 – eine Kopie und eine Änderung nach Maß
Ohne zu ahnen, um was es den nationalsozialistischen Vertretern tatsächlich ging, protokollierte man an St. Stephan die merkwürdigen Vorgänge rund um das Trauungsbuch von 1761–1762 auf das Genaueste. Die mehr oder weniger freiwillig erfolgte Entlehnung, das Anfertigen einer Kopie in Berlin, deren Rückstellung im Frühjahr 1941 samt dem vom Reichssippenamt bei erstellten Kirchenbuchkopien üblichen Beschreibungsblatt mit einem durch Unterschrift und Dienstsiegel bestätigten Beglaubigungsvermerk sowie die verweigerte Retournierung des Originals mit der nicht näher ausgeführten Begründung, dieses würde „weiters für wissenschaftliche Arbeiten benötigt“. Wie sich später herausstellte, galt dieser enorme Aufwand einzig und allein dem Zweck, den Vermählungseintrag eines Johann Michael Strauß zu tilgen – der Urgroßvater von Johann Strauss (Sohn) war nämlich nicht nur ein „ehrbarer“ Bedienter bei Feldmarschall Graf von Roggendorff gewesen, sondern auch „ein getauffter Jud“.
Die Frage des Warum
Wozu dieses nachträgliche „arisieren“ eines 1899 verstorbenen Komponisten? Einerseits wäre es wohl unmöglich gewesen, der Bevölkerung die ins Allgemeingut eingegangenen Melodien eines Johann Strauss zu verbieten, andererseits galt es, einer großen Blamage zu entgehen. Hatte man doch 1939 die Musik des Wiener Walzerkönigs als „so deutsch und so volksnah“ apostrophiert wie kaum eine andere und sich gar zu der Behauptung verstiegen: „Wenn Johann Strauß heute lebte, dann wäre er Antisemit.“ Und nun sollte dieser deutscheste aller deutschen Komponisten ein „Achteljude“ sein? Interessant ist, dass bei Strauss eine Rückverfolgung bis zur 5. Generation, den sogenannten Altgroßeltern, angestrebt wurde, was sonst lediglich bei Parteimitgliedern erforderlich war; „Normalsterblichen“ genügte ein Ariernachweis bis zur 3. Generation. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass sich NS-Bonzen höchster Ränge der „Angelegenheit des bewussten berühmten Wieners S.“ annahmen, darunter Gauleiter Baldur von Schirach.
Was sich dank der Rückstellung des originalen Trauungsbuches nach Kriegsende an die Pfarre St. Stephan und der dadurch aufgedeckten Fälschung heute als Kuriosum der (Musik-)Geschichte ausnimmt, offenbart bei näherer Betrachtung eine erschreckende Dimension. Hält man sich die rigorose Gründlichkeit vor Augen, mit der die Nationalsozialisten versuchten, alles Jüdische aus der Biographie eines toten Komponisten auszulöschen, beginnt man die Ungeheuerlichkeit jener Verbrechen des Regimes zu erahnen, die dieselbe Vorgehensweise im realen Leben gezeitigt hat.
Radiotipp
Archivar? Archiwie? Archiwo?
Wissenswertes aus der Historie des Wiener Wahrzeichens und der Bundeshauptstadt in einem „Radio-Wiki“ von Monika Jaroš und Stefan Hauser. Domarchivar Reinhard Gruber über die Strauss-Fälschung an St. Stephan.
Freitag, 06. Dezember 2024, 17.30 Uhr
- Quelle:
- Magazin Klassik
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- # 35 | Winter 2024
- S. 14-15
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