- Foyer5
- Landestheater Linz
- # 15 | November/Dezember 2019
- S. 23
Carte Blanche
Mein Gott, Mama
Text: Christine Haiden
In: Foyer5, # 15 | November/Dezember 2019, Landestheater Linz, S. 23 [Publikumszeitschrift]
„Wie gut, dass wir uns von den Kritiken nicht haben abhalten
lassen“, meinte die Dame neben mir zum Beginn der Pause. „Die zwei ersten
Stunden sind wie im Flug vergangen“, konstatierte ein Bekannter an der Bar.
Stimmt. Le Prophète hat uns erfrischt in die Erholungsphase geschickt. Sahen
wir da nicht das Drama eines Muttersohnes, wie es im psychologischen Lehrbuch
steht? Die Mama ist der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Entwicklung von
Jean de Leyde. Als der Herr Sohn schon mitten im Verbrechen watet, es muss gegen
Ende des dritten Aktes sein, sagt er sinngemäß: „Ich mag nicht mehr, ich will
wieder zu meiner Mama.“ Doch da ist es schon zu spät. Er wurde von den Agenten
der Wiedertäufer als ersehnter Prophet auserkoren. Erst so können sie ihre
Ziele erreichen. Wie Muttersöhne, deren männliche Identität eher einer
Leerstelle gleicht, eignet er sich für die Projektionen der anderen.
Schließlich übernimmt Jean, was man in ihn hineinlegt, und fühlt sich selbst
als gottgesandter Erlöser.
In einer ungerechten Welt legitimieren sich mit ihm Mord und
Gewalt, um im Namen Gottes ein scheinbar besseres Leben für die Anhänger der
Wiedertäufer zu schaffen. Und sei es nur für die männliche Fraktion, die nun
ungehindert Zutritt zum weiblichen Geschlecht bekommt. Schließlich krönt sich
der Muttersohn, dessen erster Auftritt etwas unbeholfen mit einem Fahrrad
stattfindet, quasi der Pazifist unter den Motorisierten, zum Gottkönig. Er
behauptet von sich, von keiner Frau geboren zu sein. Höchster Ausweis
männlicher Unabhängigkeit? Aber gegen die Mama kommt er nicht auf. Auch wenn er
sie verleugnet, verzeiht sie ihm. Ganz anders seine vermisste Geliebte, die
sich angeekelt von seiner Grausamkeit tötet. Als die Rädelsführer der
Wiedertäufer abtauchen, weil der Absturz des Gottkönigs droht, bleibt nur das
dramatische Finale. Wenn schon tot, dann reiße ich alle mit, verkündet Jean.
Ein Muttersohn-Ende, triefend von Selbstbezogenheit und Selbstmitleid,
schlüssig inszeniert und vor allem vom Bruckner Orchester mit Dirigent Markus
Poschner famos musiziert. Man geht nachdenklich nach Hause. Der
gottköniggleichen Muttersöhne sind noch immer viel zu viele.
Christine Haiden ist langjährige Chefredakteurin
der Zeitschrift Welt der Frauen, Präsidentin des Oberösterreichischen
Presseclubs und ambitionierte Kulturliebhaberin
- Quelle:
- Foyer5
- Landestheater Linz
- # 15 | November/Dezember 2019
- S. 23
PDF-Download
Artikelliste dieser Ausgabe