Palazzetto Bru Zane / Paris

Es bleibt alles anders

Offenbachs «Pariser Leben», wie es 1866 nicht uraufgeführt wurde, tourt durch Frankreich – und vielleicht bald durch die Welt

Albert Gier • 12. Januar 2022

Bahnhofszene (Tours, Dezember 2021) © Marie Pétry

Andere Länder, andere Sitten: Das Pariser Théâtre des Champs-Élysées ist bei den Aufführungen der Originalfassung von Jacques Offenbachs «Vie parisienne» ausverkauft, zwischen Besuchergruppen oder Einzelpersonen bleiben keine Plätze frei. Zutritt hat, wer lediglich zweifach gegen Covid-19 geimpft ist, ein tagesaktueller Test wird nicht verlangt. Allerdings behalten die Zuschauer während der Vorstellung brav ihre Masken auf, die Garderoben und das Büffet sind geschlossen – daran wird es wohl liegen, dass auch die überwältigende Mehrheit der Franzosen einen Theaterbesuch unbeschadet übersteht.

Die Version der «Vie parisienne», die am 31. Oktober 1866 im Pariser Théâtre du Palais-Royal uraufgeführt wurde, unterscheidet sich in vieler Hinsicht von der Fassung, die Offenbach und seine Librettisten Meilhac und Halévy konzipiert hatten, etliche Nummern wurden gestrichen, durch andere ersetzt oder wesentlich verändert (vgl. dazu die Vorab-Analyse «Ein neues Leben»). Erst in der letzten Zeit wurden Quellen aufgefunden oder erschlossen, die eine Rekonstruktion des Originals ermöglichen. Die Spezialisten von Palazzetto Bru Zane, die seit Jahren das französische Opern- und Operettenrepertoire des 19. Jahrhunderts erforschen und viele in Vergessenheit geratene Kostbarkeiten in Neuausgaben wieder zugänglich machen, haben eine spielbare Fassung der Ur-«Vie parisienne» vorgelegt, die in der Inszenierung von Christian Lacroix Anfang November in Rouen ihre umjubelte Weltpremière erlebte. Auf ihrer Tournee durch Frankreich war sie vom 21. Dezember bis zum 9. Januar im Théâtre des Champs-Élysées zu Gast, weitere Stationen werden folgen.

In der 1866 uraufgeführten Fassung blieb der Gang der Handlung im Wesentlichen unverändert. Von den musikalischen Nummern wurde etwa ein Drittel ganz oder in wesentlichen Teilen gestrichen oder ersetzt, ein weiteres Drittel blieb unverändert, in den übrigen Nummern gab es kleinere Veränderungen. In der Neuinszenierung hört und sieht man also das vertraute Stück, aber es gibt eine ganze Menge reizvolle Musik von Offenbach (mehr als ein Dutzend Nummern), die noch niemand kennt. Auch in den gesprochenen Dialogen fiel manche witzige Pointe den Kürzungen vor der Uraufführung zum Opfer.

Die Kostüme stammen von Christian Lacroix (Tours, Dezember 2021) © Marie Pétry

Christian Lacroix ist im deutschen Sprachraum vor allem als Modeschöpfer und Designer bekannt, aber seit mehr als zehn Jahren entwirft er vor allem Kostüme für Schauspiel und Oper. In der neuen, alten «Vie parisienne» hat er erstmals auch das Bühnenbild gestaltet und Regie geführt. Das Programmheft zitiert sein Bekenntnis: „Schon als Kind interessierte ich mich nicht für die Gegenwart und fühlte mich auf pathologische Weise von der Vergangenheit angezogen.“ Ein «Pariser Leben», wie es z.B. 2015 an der Wiener Volksoper zu sehen war, mit modernen Kostümen, Straßendirnen in Korsett und Netzstrümpfen, Graffiti an den Hauswänden und einem Lastkraftwagen als Running Gag, steht folglich nicht zu erwarten (oder zu befürchten), allerdings auch keine „archäologische“ Rekonstruktion dessen, was 1866 im Théâtre du Palais Royal (oder ein paar Jahre später im Théâtre des Variétés) zu sehen war: Lacroix strebt ein „Hin und Her zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ an. Die Kostüme beziehen sich auf die Mode der 1860er-Jahre (für den kleinen Christian wurden Hefte einer Modezeitschrift von 1860, die ihm zufällig in die Hände fielen, zum prägenden Erlebnis), aber er interpretiert diese Vorbilder auf seine Weise, vor allem, was Farben und Muster angeht.

Für das Bühnenbild gilt ähnliches: Der Rahmen bleibt unverändert – was schnelle Umbauten ermöglicht –: eine Fensterfront im Hintergrund, vorn links eine Galerie, die über eine Treppe und einen Aufzug zu erreichen ist. Zu Beginn ist das der Bahnhof Saint-Lazare, wo die Touristen ankommen, wenn Möbel hereingetragen oder -geschoben werden, wird der Raum zum Vestibül im Haus Gardefeus, zum Salon bei Madame de Quimper-Karadec, etc. Das funktioniert recht gut, allerdings ist z.B. in der Eingangsszene ein bisschen wenig „Bahnhof“ zu sehen (in grauer Vorzeit, um das Jahr 1981, gab es im Théâtre du Châtelet einmal eine «Vie parisienne» mit einem „richtigen“ Eisenbahnzug…). In manchen Szenen scheint der Raum etwas eng – Galerie, Treppe und Aufzug brauchen halt Platz –, aber das stört nicht wirklich.

Der Regisseur lässt das Stück im Wesentlichen spielen, „wie es dasteht“. Das ist durchaus unterhaltsam und witzig und hat den großen Vorteil, dass Zuschauer, die die verbreitete Standardform von «Pariser Leben» einigermaßen gut kennen, die Unterschiede, neuen Nummern, Alternativfassungen etc. registrieren können, ohne von szenischen Mätzchen abgelenkt zu werden. Und was man da zu hören bekommt, ist durchaus eine Reise nach Paris (oder anderswohin) wert.

(Tours, Dezember 2021) © Marie Pétry

Im ersten Akt ändert sich nur wenig. Métellas Solo in der Introduktion („Connais pas!“) fällt weg, es wurde erst später, auf Wunsch von Hortense Schneider, nachkomponiert. Gardefeus Triolets sind ganz anders, mit einem gleichsam atemlosen Einsatz statt der ruhig ausschwingenden Melodie, die man kennt – hier, und nur hier, würde ich die zweite Fassung vorziehen.

Das Rondo des Brasilianers, in dem gewöhnlich ein großer Strich gemacht wird, ist natürlich vollständig zu hören und trägt dem Sänger den ersten Szenenbeifall des Abends ein. Gesungen wird durchweg gut; da die größeren Partien allesamt doppelt besetzt sind und die Abendbesetzung weder durch ein Einlegeblatt im Programmheft noch durch einen Anschlag im Foyer bekanntgegeben wird, kann ich die Interpreten leider nicht nennen. Erfreulicherweise scheuen sie nicht davor zurück, gelegentlich dem Charakteristischen oder Karikaturalen den Vorzug vor opernhaftem Schöngesang zu geben; das gilt besonders für den Sänger, der traditionsgemäß den Brasilianer, den Schuster Frick (mit nur sehr diskret angedeutetem deutschen Akzent) und die winzige Rolle des Gontran verkörpert. – Von den neuen Nummern ist z.B. das Terzett Nr. 17 im dritten Akt, das der dänische Baron Gondremarck mit den beiden Bedienten singt, die hier einen General und einen Diplomaten spielen, sehr witzig. In Gabrielles Couplets „On va courir, on va sortir“ (Nr. 20) lässt Lacroix als szenischen Gag drei Damenimitatoren auftreten. Das im dritten Finale, ebenfalls von Gabrielle gesungene Lied der alten Straßenfegerin (Nr. 22B) evoziert den Stil der Couplets im Café-concert.

Der vierte Akt wurde von Offenbach für die Uraufführung völlig neu komponiert, man hört hier also erstmals einiges an reizvoller Musik, z.B. das „Schnarchterzett“ (Nr. 24) Bobinets und der beiden Bedienten Urbain und Prosper, die ihren Rausch ausschlafen, die Couplets Paulines (Nr. 25) und das frivole „Fabliau“ der Baronin (Nr. 26), die in aller Unschuld die Begegnung zweier junger Leute beschreibt, die sie beobachtet, aber nicht verstanden hat (offenbar handelt es sich um eine Kokotte und einen ihrer Liebhaber). Im fünften Akt gibt es erstmals einen „Charivari“, ein Durcheinander (Nr. 34): Während die Baronin (maskiert) ihren Mann auf Distanz hält, der glaubt, eine Kokotte vor sich zu haben, spielt sie auf dem Klavier das Entreelied des Pâris aus der «Belle Hélène»; in drei anderen Séparées wird ebenfalls Klavier gespielt, natürlich andere Stücke. Die zu erwartende Kakophonie entsteht allerdings nicht wirklich, die rivalisierenden Instrumente sind nur schwach zu hören.

Unter der aufmerksamen Leitung des jungen Romain Dumas spielen die Musiciens du Louvre – die ursprünglich auf Barockmusik spezialisiert waren, inzwischen aber schon oft bewiesen haben, dass sie auch im 19. Jahrhundert zu Hause sind – schwungvoll und engagiert. Die Ausgrabung eines im wörtlichen Sinne unerhörten Werkes ist sehr verdienstvoll und erfreulich. Noch zwei ganze Jahre lang ist eine vollständige Videoaufzeichnung dieser Produktion auf Arte Concert zu sehen, und die Musik gibt es hoffentlich bald auch auf CD, in der schönen Reihe „Opéra français/French Opera“ von Palazzetto Bru Zane. Vielleicht wird das auch manches Theater im deutschsprachigen Raum motivieren, «Pariser Leben» künftig so aufzuführen, wie Offenbach es komponiert hat!

 

«La Vie parisienne» – Jacques Offenbach
Théâtre des Champs-Élysées ∙ Palazzetto Bru Zane

Rekonstruierte Fassung der Urversion von 1866

Kritik der Aufführung am 2. Januar 2022