Wiener Musikverein
Tränen der Wahrhaftigkeit
Die Schauspielerin Marion Cotillard begeistert bei Honeggers «Jeanne d’Arc au bûcher» im Rahmen einer Tournee mit dem HR-Sinfonieorchesters unter Alain Altinoglu
Walter Weidringer • 18. Dezember 2024
Schiller erspart seiner Johanna die Schmach von Prozess und Schafott und lässt sie lieber an den in der Schlacht erlittenen Wunden sterben: „Kurz ist der Schmerz, und ewig ist die Freude“, lauten ihre letzten Worte und damit auch der Schluss der „Jungfrau von Orleans“, der „Romantischen Tragödie“ von 1801. Doch würde dieser letzte, vielleicht verzückt ausgerufene Vers auch zum Tod auf dem Scheiterhaufen passen. 135 Jahre später, bei Paul Claudel, gibt es freilich auch noch Spielarten der romantischen Verklärung – und starke Verwurzelung im Katholizismus mit dazu. Aber trotzdem haben sich die Voraussetzungen und Umstände geändert.
Der Tiger? Lässt sich entschuldigen. Der Fuchs? Meldet sich krank. Die Schlange? Ist entschlüpft. Wer bleibt übrig? „Porcus! Porcus! Grunz! Grunz!“: Das Schwein übernimmt den Vorsitz. Die Schafe werden Beisitzer, der Esel Schriftführer: Da kann ja nichts mehr schief gehen bei der Gerichtsverhandlung – und die Angeklagte wird wie gewünscht als Hexe zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt.
In Arthur Honeggers dramatischem Oratorium «Jeanne d’Arc au bûcher», komponiert 1936, stehen die vermenschlichten Tiere in der Tradition des „Roman de Fauvel“, einer satirischen französischen Versdichtung des 14. Jahrhunderts. Und wenn die Wiedervereinigung des „Riesen Mühlwind“ und der „Mutter Weinfass“ gefeiert wird, Symbole für Frankreichs nördliche Kornkammer und südliche Weinberge, dann wird die politische Dimension zur Entstehungszeit spürbar in dieser famosen Verbindung aus Mysterienspiel und Oper, Oratorium und Schauspiel sowie aus dem Film kommender Schnitttechnik mit Rückblenden: 1938 konzertant uraufgeführt und 1944 nach der Befreiung Frankreichs von der Nazi-Besetzung mit einem Prolog versehen, galt das Werk von Beginn an als Dokument der Résistance. Dabei ergeht sich Honegger in einer ergötzlichen Polystilistik avant la lettre: Groteske, jazzig leichtfüßige Komik prickelt durch die Tierszene; butterweiche Saxophone betören; das von Messiaen bekannte Instrument Ondes Martenot gleitet schaurig-schön durch den Tonraum – nicht zuletzt bei den diesmal besonders pittoresken Eselsrufen. Und das Hin und Her des Hundertjährigen Krieges wird als Kartenspiel mit hintersinnig-bukolischen Holzbläsertänzen gezeigt. Dazu noch vorgeschützte, weil raffiniert erzielte Volksliedschlichtheit – und vor allem jene hymnisch schmelzenden Erlösungskantilenen, die nach Johannas Flammentod geradezu hollywoodesk ans Herz rühren.
„Hérétique! Sorcière! Relapse!“: Was – eine Ketzerin, Hexe, Unbelehrbare soll sie sein? Eine Feindin Gottes, des Königs, des Volkes? Sie, die einfache, kleine Johanna? Ein lothringisches Bauernmädchen, das diese Begriffe gar nicht versteht, das nicht einmal lesen kann? Ja. Aber sie ist auch von einer unerschöpflich erscheinenden Kraft beseelt. Und diese Kraft versiegt selbst dann nicht, wenn sich alles gegen sie verschworen hat. „Moriatur Stryga!“, verlangt der Chor: Die Hexe soll sterben.
In Marion Cotillard, dieser zierlichen Frau, vibriert die genannte Kraft auf der Bühne. 2007/08 hat sie diverse Preise eingeheimst für ihre Darstellung der Édith Piaf in Olivier Dahans „La vie en rose“, unter anderem auch den Hauptrollen-„Oscar“. Nun konnte sich das Publikum des Musikvereins davon überzeugen, dass ihre Ausstrahlung nicht von Kamera, Schnitt und Nahaufnahme abhängig ist. Nirgends gibt sich Cotillard mit bloßem Pathos zufrieden, überall vermittelt sie eine natürliche, zu Herzen gehende Schlichtheit – auch in der fallweise großen Geste. Dabei vergießt sie sogar ein paar Tränen der Wahrhaftigkeit. Da kann auch im Publikum so manches Auge nicht trocken bleiben. Zumal dann, wenn sie mit kunstlos brüchiger, bebender Stimme das alte Liedchen aus Kindheit und Heimat singt, genannt „Trimazô“.
Es gehört zu den Besonderheiten dieses Werks, dass man zunächst versucht ist, über das vokale Schauspiel zu schwärmen, das die zentralen Sprechrollen erfordern. Dabei ist es ein Gesamtkunstwerk eigenen Ranges. Honeggers Komposition ist so raffiniert, dass sie dem gesprochenen Wort scheinbar den Vortritt lässt. In Wahrheit aber trägt sie den spontan zugänglichen Schauspielanteil, verstärkt ihn, hüllt ihn ein, hebt ihn empor. Alain Altinoglu hat dafür eine glückliche Hand. Er mischt die flexiblen, stets sauber tarierten Klänge seines HR-Sinfonieorchesters Frankfurt mit der nicht minder differenzierten Intensität des Wiener Singvereins und den rein tönenden Wiener Chormädchen zu einer packenden Bilderfolge. Seinerzeit haben die aufregenden musikalischen Parallelaktionen, zu denen Einst und Jetzt hier zusammengezwungen werden, bei so manchen noch Migräne verursacht. Heute hat niemand ein Problem mehr mit der Verbindung von B-A-C-H-Motiv, Jazz und Groteske, Choral und früher Elektronik. Das ergibt eine Musik, „schön zugleich und schrecklich“ anzuhören.
Glänzend dazu Éric Génovèse als liebevoller Frère Dominique neben Benjamin Gazzeri Guillet und Jean-Baptiste Le Vaillant in weiteren, präzise und eindringlich gestalteten Sprechrollen. Auf Seite der Gesangssoli führte Tenor Julien Dran das Ensemble an, tadellos sekundiert von Ilse Eerens (La Vierge), Isabelle Druet (Marguerite) und Svetlana Lifar (Catherine) sowie dem wandlungsfähigen Bass Nicolas Courjal.
Nach Stationen in Frankfurt und Paris erntete dieses Gastspiel einen ergriffenen Jubel im Wiener Musikverein, bevor die Tournee heute in der Hamburger Elbphilharmonie ihren Abschluss findet.
«Jeanne d’Arc au bûcher» (Johanna auf dem Scheiterhaufen) – Arthur Honegger
Wiener Musikverein · Großer Musikvereinssaal
Kritik der Aufführung am 16. Dezember
Termin: 18. Dezember (Elbphilharmonie Hamburg)